Im Feuer der Chauken

Klappentext

Der Student Leon Hollerbeck entfesselt in seinem alten Kamin ungewollt einen mysteriösen Feuersturm, der ihn in das Jahr 1 n. Chr. zurückschleudert. Anfangs zutiefst verzweifelt, doch dann kämpferisch will er in dieser gnadenlosen und fremdartigen Welt überleben und wird vom Stamm der Chauken aufgenommen. Als Chauke Witandi wehrt er sich schließlich gegen machtgierige Römer und grausame Langobarden und beweist so Mut und Tapferkeit. Doch schon bald stellt er fest, dass er offenbar nicht der einzige Zeitreisende ist. Bei einem Überfall der Römer auf eine Versammlung der Germanen hört er Schüsse, findet sogar Patronenhülsen und macht eine erschütternde Entdeckung ...

 

Prolog

Wie in jedem Winter tränt mein Auge von den vielen Stunden im stickigen Rauch des Torffeuers. Ich blinzele einige Male und reibe mir die laufende Nase. Die geschwollenen Schleimhäute in Mund und Rachen brennen ein wenig vom Einatmen der verräucherten Luft. Ohne mich weiter daran zu stören, lehne ich mich zurück an die kühle Flechtwerkwand. Ich strecke meine Beine unter den kleinen Tisch vor mir und drehe den dicken Papyrus in den Schein des Feuers, um besser lesen zu können. Von draußen erklingt lautes Lachen und freudiges Geschrei, dann höre ich dumpfe Schläge gegen die andere Seite der Wand, an der ich sitze. Die Kinder bewerfen sich mit Schneebällen und haben ihre Freude dabei! Die hohe, klare Stimme meiner lieben Frau mischt sich in das Gelächter, sodann das Bellen der Hunde. Ein Gefühl des Glücks und der Wärme durchläuft mich, trotzdem ziehe ich den Umhang an meinem Hals enger zusammen. Ich muss dringend hinaus zu ihnen, etwas frische Luft schnappen! Zu lange habe ich heute schon wieder hier gehockt und geschrieben, gelesen und weiter geschrieben. Die düsteren Wintermonate, in denen die harte Feldarbeit ruht, sind ideal dafür. Ich will, nein, ich muss meine ungeheuerlichen Erlebnisse festhalten – sie aufschreiben und dann irgendwo sicher verwahren. An einem Ort, wo sie Jahrtausende überdauern können. Denn meine Aufzeichnungen sind nicht für die Menschen dieser Zeit, dieser Epoche bestimmt, schließlich gibt es keinen Einzigen unter ihnen, der meine Worte würde lesen oder gar verstehen können. Dennoch handelt die Geschichte von ihnen – besser: von uns! Es ist meine Geschichte und die ihre. Meine Danksagung an dieses Volk.

Warum ich so dankbar bin? Weil ich hier mein Glück gefunden habe. In dieser uralten Welt, dieser uralten Zeit. Kaum etwas würde von ihr bleiben, kaum etwas würde man noch von ihr wissen nach 2000 Jahren. Die Kultur und die Rituale dieses Volkes, seine Sprache, seine Helden, seine Götter. Fast alles würde verschwinden, untergehen im Mahlstrom der Jahrtausende! Meine Geschichte soll dazu beitragen, ein wenig davon in die Zukunft zu retten. Diese Menschen, die sich selbst »Chauken«, also die »Hohen« nennen, haben mich aufgenommen und beschützt. Immer und bedingungslos. Ohne meine Familie und meine Freunde unter ihnen wäre ich längst tot und vergessen. Unsere Schicksale haben sich untrennbar miteinander verknüpft, haben sich vermischt wie die Wasser eines Baches, der in einen größeren Fluss mündet.

Diese Erzählung ist mein Tribut an das Volk der Chauken – ein großartiges Volk von geruhsamen Bauern und immer, wenn es nötig war, auch tapferen und furchtlosen Kriegern. Ich selbst habe viele blutige Schlachten und harte Hungerwinter überstanden, mit den Chauken im »Gewaltigen Krieg« gekämpft, war Zeuge der Unterwerfung der Langobarden durch den angesehenen Tiberius, der später Kaiser von Rom wurde. Ich habe Arminius dabei geholfen, die drei Legionen des berühmten Varus in einer der bekanntesten Schlachten der Geschichte zu besiegen, und habe dafür einen der begehrten Legionsadler als Belohnung bekommen. Anschließend habe ich mit Mühe und Not die Vernichtungsfeldzüge des gerissenen Fuchses Germanicus überlebt. Ich habe schwere Verletzungen durchgestanden und schmerzliche Opfer gebracht.

Lang ist all dies her und ich will auch nur von einigen dieser Ereignisse erzählen. Die letzten Jahre sind zunehmend schneller verflogen und meine Erinnerungen drohen zu schwinden. Vielleicht werden meine Aufzeichnungen eines Tages entdeckt, entziffert und gelesen – und die Erkenntnisse der nüchtern sachlichen Wissenschaft in ferner Zukunft revolutionieren! Geschichte würde umgeschrieben werden müssen, wenn irgendwann das öffentlich würde, was ich auf die Papyrusrollen in der Kiste neben mir geschrieben habe. Gedämpft erklingt erneut das Lachen meiner Kindeskinder von draußen herein. Offenbar sind sie nun gemeinsam in den verschneiten Wald gelaufen. Langsam erhebe ich mich und schüre das Feuer ein wenig, damit es wieder heller brennt. Meine Erlebnisse aufzuschreiben und dadurch in die Zukunft zu retten, ist das größte Geschenk, das ich meiner Familie und dem Stamm zurückgeben kann! Sollten die Schriftrollen jemals gefunden werden, würde der Name der Chauken eines fernen Tages erneut in aller Munde sein, verdiente Unsterblichkeit erlangen!

Schmunzelnd bei diesem Gedanken lese ich die letzten Zeilen noch einmal, blinzele mit meinem verbliebenen Auge die Rauchtränen weg und lege auch diese Papyrusrolle zu den vielen anderen, die bereits eine große Holztruhe an der Wand füllen. Ich werde die Kiste im Frühjahr tief unter einer Lage Eichenbalken vergraben müssen, solange ich es noch selbst kann. Meine Knochen werden immer müder und meine Kraft geringer. Wenigstens weiß ich schon, wo ich sie vergraben will, und ich habe kurz das Bild des krummen Steins am Hang des »Hohen Berges« vor Augen. Langsam gehe ich zur Holztür und schreite hinaus in die glänzende Wintersonne.

 

Der Zauber

Neun Tage und Nächte dauerte das Ritual bereits. Jetzt, kurz vor dem Höhepunkt, saßen die neun Zauberinnen erschöpft auf der kleinen Waldlichtung rings um ein mächtiges Feuer. Sie sammelten ihre Kräfte, murmelten leise, unverständliche Worte und wippten mit ihren Oberkörpern dabei wie in Trance vor und zurück. Sie hatten sich kreisförmig angeordnet, ausgerichtet an dünnen Ebereschenpfählen im Boden. Ein rot gefärbtes Band markierte den heiligen Bereich. Hinter jeder der Frauen war ein Büschel mit Früchten oder getrockneten Beeren befestigt, mal Vogelbeeren, mal Holunderbeeren, mal Haselnüsse – alle mit magischer Kraft und stellvertretend für die Aspekte des Lebens und des Todes.

Für einen kurzen Moment gaben die dunklen Wolken den silbern leuchtenden Mond frei. Sein fahles Licht mischte sich mit dem flackernden Schein der Flammen und tauchte die Lichtung auf dem lang gezogenen, bewaldeten Sandrücken in einen unirdischen Glanz. Dies war die Grenze zwischen dem Marschland im Norden und den sandigen Heidelandschaften bis hin zu den ausgedehnten Mooren im Süden und trennte einst sogar Stammesgebiete. Doch der Stamm der Chauken, ein weit verstreutes und eigentlich friedfertiges Volk, hatte nach und nach die kleineren Marschund Geestvölker aufgesogen, bis von ihnen nichts mehr geblieben war. Für die Weisen der Chauken galt diese kilometerlange sandige Erhebung, die sich wie eine Schlange gegen das ansonsten flache Umland abhob, bereits seit Urzeiten als magischer Ort. Hier war man den Göttern näher als irgendwo sonst in dieser Gegend. Schon ihre Urahnen hatten hier überall ihre Häuptlinge und Stammesfürsten begraben, wovon die zahlreichen Großsteingräber ringsum heute noch stumme, aber beeindruckende Kunde taten. Die alten Weisen munkelten, der Sandrücken wäre ein liegen gebliebener Finger des Urriesen, aus dessen Körper einst die Menschenwelt geformt wurde. Sie nannten ihn »Thurisfingar« – Finger des Riesen. Ein einzelner langer Felsbrocken markierte diesen ganz besonderen Ort auf dem Thurisfingar, an dem die Zeremonie stattfand. Hier waren die Kräfte der Erdgeister außergewöhnlich stark, wurden sogar durch die jahrtausendealte bronzene Himmelsscheibe noch verstärkt. Diese lag unter dem Felsbrocken, sicher tief im Schoße der Mutter Erde eingebettet. Der Zauber, der aus einer Zeit stammte, als die Menschen noch die Sonne und die Gestirne selbst anbeteten, würde erst durch die ebenso alte Scheibe möglich werden. Uralte Kräfte waren darin gebunden und eingefangen – in der Hand eines Wissenden ein mächtiges Instrument! Zauberkundige hatten sie vor lange zurückliegenden Zeiten angefertigt, als alle Dinge gerade erst erschaffen, die Menschen aus Esche und Ulme geschnitzt worden waren und die Götter noch zwischen ihnen wandelten.

Vorbeiziehende Wolken verdüsterten den Mond wieder. Der nachlassende Mondschein ließ die Schatten der Baumäste einen Moment lang wie mächtige Finger nach der kleinen Gruppe greifen. Dann verschmolzen sie mit der Dunkelheit. Die neun Zauberinnen hatten sich vorbereitet, Beschwörungen durchgeführt, Geist und Körper durch Schwitzen und Fasten gereinigt, Opfer gebracht. Die meisten von ihnen waren von den umliegenden Stämmen der Chauken, einige aber auch von weiter her gekommen: aus den Gebieten der Cherusker, der Angrivarier und der Brukterer.

In dieser heiligen neunten Nacht würde es so weit sein – dann, wenn die Leben spendende Sonne erstmals im neuen Jahr ihre warmen Strahlen über die nördlichen Länder streichen ließ. Wissende und Kundige hatten diesen Zeitpunkt bestimmt, mit der Hilfe uralter Sternenkarten auf anderen Bronzescheiben, die seit etlichen Menschenaltern bei den Stämmen im Osten zu deren größten Schätzen gehörten. Jahr für Jahr mussten für diese Informationen viele Stück Vieh bezahlt werden, da unter anderem auch die Bauern nach dem Sonnenstand den Beginn ihrer Aussaat ableiteten. Zwischen den Zauberinnen war der Boden mit einem komplizierten Muster aus Steinen und Stäben bedeckt. Jede von ihnen saß vor einer schmalen, fast mannshohen Figur, welche aus Holz geschnitzt und mit uralten Symbolen und Runenzeichen reich verziert war. Die Paarungen symbolisierten und repräsentierten jeweils eine der neun Welten und damit alle Kräfte des Universums. Sie stellten Feuer und Eis, Licht und Finsternis, Leben und Tod, Wachstum und Zerstörung sowie die alles miteinander verbindende göttliche Kraft dar.

Eine von ihnen reichte jetzt eine einfache Tonschale mit einer Flüssigkeit darin weiter. Sie murmelte etwas, wobei sie erst nach Norden blickte, dann in die anderen Himmelsrichtungen, dann nach oben und schließlich nach unten. Die Entgegennehmende tauchte drei Finger einer Hand in die Schale und spritzte eine kleine Menge der Flüssigkeit in alle Richtungen. Anschließend nahm sie einen tiefen Schluck. Diese Prozedur wiederholte sich auch bei den folgenden Frauen. Mit versteinerten Mienen fassten sie sich an den Händen und hoben gemeinsam ihre verwitterten und wettergegerbten Gesichter gen Himmel. Feine farbige Linien zierten diese. Einigen von ihnen fehlte das linke Auge, einst Opfergabe an den einäugigen Göttervater, dem sie sich geweiht hatten. Die lange verheilten leeren Augenhöhlen ließen darauf schließen, dass diese Opfer bereits fast so alt wie sie selbst waren.

Einer hochgewachsenen, hageren Zauberin fehlte die linke Hand, welche sie dem alten Himmelsgott Tiu geopfert hatte. Ihre Nachbarin hielt deren Armstumpf anstatt der Hand. Die Opferung eines Körperteils war in ihrer aller Augen die höchstmögliche Huldigung eines Gottes. Wer etwas von sich opferte, bekam auch etwas dafür zurück – es war das uralte Prinzip des Gebens und Nehmens. Oft war es Weisheit, die man im Austausch für ein solch hohes Opfer empfing. Und weise waren sie, diese Zauberinnen! Einige trugen Umhänge aus Habicht- oder Falkenfedern als Zeichen ihrer Verbundenheit mit dem Fruchtbarkeitsgott Ingwio oder der Muttergöttin selbst. Andere hüllten sich in dunkle, mit reichhaltigen und feinen Stickereien verzierte Überwürfe und sie hatten ausnahmslos langes, wallendes Haar von Schlohweiß bis zu einem gräulichen Blond. Schwarze, metallisch glänzende große Rabenfedern steckten bei zweien von ihnen im Schopf. Auffällige Anhänger, teils aus Knochen, teils aus Holz, verziert mit kleinen Federn oder Lederbändern, schmückten die Hälse fast aller Frauen. Auch die Hände und Unterarme waren mit feinen gezackten Linien und Spiralmustern aus heiliger Farbe überzogen. In langwierigen, schmerzhaften Prozeduren waren diese mit den spitzen Knochensplittern geopferter Raubvögel tief unter die Haut gestochen worden.

Die Zauberinnen waren jetzt bereit, die Himmelsscheibe einzusetzen, den Durchgang zu öffnen, so, wie es seit Menschengedenken nicht mehr geschehen war. Denn der Preis war hoch! Eine von ihnen würde noch heute Nacht zur Hel gehen – in die Welt, aus der keiner zurückkonnte, außer dem hellhörigen und wachsamen »Weißen Gott«, Beleuchter der Welten, »Goldzahn« genannt, Sohn des Einäugigen und der neun Mütter. Und niemand opferte leichtfertig eine der mächtigen zauberkundigen Hagedisen, denn ihre Weisheit und ihre Voraussicht waren für die Anführer von unschätzbarem Wert. Die Hagedisen waren zugleich Seherinnen, Heilerinnen und Ratgeberinnen – eben Grenzgängerinnen, Zaunreiterinnen zwischen den Welten, wussten um dieses und jenes, kannten alles und jedes und waren für die mächtigen Stammesführer wichtige Quellen der Inspiration.

Doch diese Welt der Menschen stand am Scheideweg, alles war im Umbruch! Gewaltige Armeen aus dem Süden, in silbern glänzenden Eisenrüstungen und stets im Gleichschritt marschierend, unterwarfen die alten Stämme des Nordens einen nach dem anderen und zwangen sie zu Tributzahlungen oder in die Sklaverei. Die Welt der Stämme stand vor dem Untergang und eine neue Weltordnung schickte sich an, von den Menschen Besitz zu nehmen.

Die Welt, aus der die Eisenmenschen kamen, nannten sie selbst »Rom« und es hieß, dass die kleinen, dunklen Männer aus jener Welt die wilde Kraft des Feuers beherrschten. Sie mussten wahrhaft mächtig sein und starke Götter haben, denn Feuer gebar ihnen Steine, härteres Eisen als das der Stämme – und sogar brennendes Wasser! Kein ungestümer Fluss konnte ihr Heer aufhalten, kein düsteres und todbringendes Moor und keiner der riesigen, dunklen, uralten Buchenurwälder. Doch die Götter der Stämme hatten versprochen, Hilfe zu schicken – nicht einen der ihren, nein, ebenfalls einen Weltenwanderer, unvorstellbar weit gereist, mit der Weisheit und Klugheit des Einäugigen selbst gewappnet. Er würde diese Welt vor der großen, endgültigen Dämmerung schützen oder den Untergang zumindest aufhalten. Ein uralter Zauber war dafür nötig!

In längst vergangenen Zeiten, als der alte Himmelsgott seinen Schwertarm einbüßte und der neue einäugige Gott, dessen Name »Wut« bedeutete, mit seiner unendlichen Schläue und Klugheit die Führung der Götter übernommen hatte, da war dieser Zauber geboren worden. Denn auch damals hatte große Gefahr gedroht von kriegerischen Völkerscharen aus dem Osten und die Götter schickten Hilfe. Zwei machtvolle Kämpfer, von Blut und Fleisch her Vater und Sohn, waren in jener Zeit durch das Tor in diese Welt gekommen, von weither und mit unbekannten Zauberkräften ausgestattet. Weltenwanderer! Die Gefahr war abgewendet und die uralte Prophezeiung vom »Nadarwinna «, dem Schlangenkämpfer, geboren worden. Seitdem waren viele Menschenalter verstrichen, bis die Runen wieder zu raunen anfingen und den Hagedisen ihren weisen Rat zuflüsterten: diesen alten Zauber zu beschwören und das Tor erneut zu öffnen. Denn die neue Gefahr war dabei, die Welt der Stämme zu umklammern, und ihre endgültige Vernichtung drohte.

Diese schreckliche Gefahr wurde »Weltenschlange« genannt – denn sie war so gewaltig, dass sie die ganze bekannte Welt umschloss! Ihr Leib, eine riesige Streitmacht aus endlosen Kolonnen von Eisenmenschen, wand sich durch die Gebiete der Stämme und verschlang alles Lebendige auf ihrem ziellosen Weg. Die Weltenschlange hinterließ verbrannte Erde und zerstörtes Land. Sie fraß das Vieh und die Ernten. Nur der Ausersehene der Prophezeiung, der Weltenwanderer und göttliche Schlangenkämpfer Nadarwinna, konnte sie noch aufhalten! Das Tor zwischen den Welten musste abermals geöffnet werden, um ihn in diese Welt zu lassen. Nach der Prophezeiung würden erneut zwei Weltenwanderer kommen, Vater und Sohn, doch nur einer von ihnen konnte die Welten vor dem Untergang bewahren, würde der Nadarwinna sein. Sie würden sich erst in ihrer Zwietracht stark machen, am gegenseitigen Kampfe wachsen, die Kraft für die Abwehr der übermächtigen Gefahr gewinnen. So hatten es alle neun Hagedisen geträumt, so hatten es die Runen flüsternd bestätigt!

Und die blinde, greisenhafte Blithgund von den Chauken hatte in ihren verstörenden Visionen noch mehr gesehen: ein Haus, beunruhigend fremdartig gebaut, das grimmige Gesicht eines Mannes, das verschwommene Gesicht eines anderen, ein altes Geheimnis. Genau dort musste eine von ihnen hin! Das sagten die Götter durch die Losstäbe, die sie warfen und aus deren Lage sie die Antworten auf ihre Fragen gelesen hatten. Den Ort zu finden, würde leicht sein, denn es würde genau hier sein – auf dem Thurisfingar, direkt über der Himmelsscheibe im Boden. Aber den richtigen Zeitpunkt zu treffen, das war eines göttlichen Zaubers würdig; diesen zu bestimmen, hatte die Kräfte der gesamten Gruppe seit Beginn der Zeremonie gekostet. Ihre Vision von dem fremdartigen Haus in einer anderen Welt, einer anderen Zeit war der Schlüssel. Immerhin wussten sie nun endlich genau, wohin sie eine der ihren schicken mussten: weit in die Zukunft, in jenes Haus auf dem Thurisfingar.

Dort angekommen, würde sie eine Falle stellen, die Weltenwanderer herlocken, denn einer von ihnen war der Nadarwinna, aber beide mussten kommen. Eine weitere Himmelsscheibe würde sie mit auf die Reise nehmen, unendlich kostbar und voller Zauberkraft. Beim richtigen Stand der Gestirne mussten die heiligen Hölzer erneut entzündet und die neun Runen der Kraft, der Veränderung, der Klugheit und des Kampfes mit einem Teil von sich selbst über der Himmelsscheibe geopfert werden. Dann würden die beiden mächtigen Kriegerzauberer, die Weltenwanderer, kommen und ihr Schicksal erfüllen. Der Einäugige selbst hatte es so in den Runen verkündet und so würde es geschehen! Einzig und allein auf diesem Wege konnte die alles verschlingende Weltenschlange, die marschierenden Armeen des Südens, die Tod und Verderben brachten und den Untergang der alten Stämme des Nordens bedeuteten, aufgehalten werden! Seit vielen Monden sprachen die Götter in den wilden, rastlosen Träumen der Hagedisen davon und die Runen raunten ihre Bestätigung hierzu.

Odalinda von den Cheruskern, eine der Alten mit wehenden schlohweißen Haaren, hob jetzt mit tiefer Stimme einen leiernden Gesang an und die anderen stimmten ein. Ihre leere Augenhöhle schimmerte silbern im Schein des Mondlichts. Das Feuer brodelte dabei und sein Knacken und Bersten gab die Melodie zu dem Gesang vor. Irgendwo aus der Ferne war das Heulen eines Wolfes zu vernehmen, doch dies kümmerte die Gruppe nicht. Mit einem lauten Krachen zerplatzte im brennenden Holz eine Luftkammer und ein mächtiger glühender Funke schoss einer der Zauberinnen an den freiliegenden Hals. Der Gesang verstummte und alle hielten inne – auch die Frau, die von dem Funken getroffen worden war. Es war Thiokwala, eine vom Stamm der Angrivarier. Ihre wilde, graue Haarmähne kündete von ihrem stolzen Alter und wehte nun leicht in einer aufkommenden Brise. Sie verzog keine Miene, trotz der schmerzhaften kleinen Brandwunde, die sich sofort rötlich auf ihrer Haut abzeichnete.

Die Entscheidung war soeben gefallen: Diese Frau würde das höchste aller Opfer darbringen! Sie würde ins Feuer gehen, die Reise in die Welt des Schlangenkämpfers antreten und damit den Zauber vollenden. Sie trug die unvorstellbar große Verantwortung dafür, die Weltenwanderer herzuholen – ihnen den Weg zu bereiten, sie zu besprechen, wenn es sein musste. Das Schicksal der Welten lag in ihren Händen, ihren Zauberkräften, ihren Fertigkeiten im Umgang mit den Zauberzeichen, den Runen. So hatte der Feurige, der Trickser, der Lodernde gerade entschieden. Und sie würden dem Zeichen der Götter folgen! Nun wussten sie, was noch zu tun war, und die Vorbereitungen für den letzten Teil der tagelangen Zeremonie begannen. Zwei der Frauen nahmen die Auserwählte und setzten sich mit ihr an die Seite. Sie füllten die Tonschale mit einer Flüssigkeit aus einem abseits stehenden irdenen Krug und gaben ihr davon zu trinken. Schweigend hockten sie danach beisammen. Die anderen nahmen lange eiserne Schürhaken, die im Gras gelegen hatten, und begannen, das Feuer zu bearbeiten. Sie zogen und stießen die brennenden Scheite, bis das Feuer praktisch zweigeteilt war. Dann stellten sie sich in zwei Reihen auf und warteten darauf, dass die beiden Frauen mit der Auserwählten zu ihnen stießen. Gemeinsam gingen sie auf die erste der Holzfiguren zu, nahmen sie auf und warfen sie ächzend in das Feuer. Die mit den weißen Haaren erhob nun ihre Stimme und setzte zu einem Sprechgesang an, in den die anderen einfielen. Reihum beförderten sie eine Figur nach der anderen in das Feuer. Als acht von ihnen brannten und nur noch die übrig war, die bei der Auserwählten gestanden hatte, stellten sie sich im Halbkreis vor den mittlerweile doppelt mannshoch lodernden Flammen auf. Die Neunte hob ihre Arme zum Himmel und verkündete den letzten der nötigen Zauber in dem eigentümlichen leiernden Sprechgesang:

»Nadarwinna! Zähmen wirst du den Lauf der Sonne. Anhalten den Mond. Feuer heißt dein Weg. Fallen wirst du von einer Felsklippe hoch, nur den Adlern zugänglich. Sollst im Fallen aufwachen und sehen, Gedanken und Gedächtnis atmen. Hunger lässt dich kriechen und Durst schreien. Sehnsucht kann dich nicht versengen. Begierde schüttelst du ab. Hirschkraft und Bärenmut wachsen dir schneller als dein Haar. Rabenklugheit und Fuchslistigkeit wachsen dir schneller als deine Nägel. Einer Schlange gleich windest du dich durch dein Schicksal. Sollst besprechen und heilen. Wirst besprochen und geheilt. Deine Feinde sättigst du mit Leid. Deine Feinde trinken deinen Zorn. Deine Feinde fütterst du mit Tod. Fällst Krieger wie junge Bäume. Wut ist deine schärfste Klinge. Sieg heißt dein Schatten, eigenes Fleisch dein Herausforderer. Gellender Wolf der Wölfe warst du, bist du, wirst du sein. Die Fessel reißt, es renne der Wolf. Sonnenglänzend Licht vertreibt die Dämmerung. Hört es, ihr Asen! Hört es, ihr Wanen! Vieles weiß ich, Fernes schau ich. Der Welten Schicksal, der Welten Sturz. Der Raterfürst1 ritzte alte Runen. Dachte der großen Dinge. Wundersam ritze ich die Runen. In neun Stäbe schneide ich die Weisheit, Kraft, Mut, Klugheit und List, Kampf, Leben, Licht und die Siegrune!«

Die Hagedise griff an ihr Gewand und hatte plötzlich ein Eisenmesser in der Hand. Nach und nach wurden ihr kurze Holzstäbchen gereicht, in die sie die Zauberzeichen – die Runen – ritzte, um den Zauber wirksam werden zu lassen. Dann hob sie einen runden, flachen Gegenstand aus dem dunklen Gras auf. Er war in ein gegerbtes Leder eingeschlagen und mit Schnüren aus Hanffasern fest umwickelt. Singend überreichte sie der Auserwählten diese zweite Himmelsscheibe, die notwendig war, um das Tor erneut zu öffnen. Die anderen Zauberinnen stimmten in den Gesang ein und ihre Stimmen schwollen zu einem mächtigen Brausen an. Wieder und wieder reckten sie ihre Arme gen Himmel und steigerten die Intensität der Worte immer weiter.

Eine dunkle Wolke schob sich vor das fahle Antlitz des Mondes – und dies schien das Zeichen gewesen zu sein, auf das die Auserwählte gewartet hatte. Sie schrie förmlich vor Rage und Inbrunst und schritt langsam, begleitet von den anderen acht, auf das hell und hoch lodernde Feuer zu. Der Kreis der Zauberinnen schloss sich immer enger um sie, bis es sie mit einem großen Schritt direkt in die Flammen zog. Die Arme mit den Runenstäben noch in die Höhe gereckt, erfasste ein gewaltiger Sog mitten aus dem Feuer heraus ihren Körper und riss ihn mit sich. Ihre Stimme erstarb abrupt und zurück blieben nur die tanzenden Feuerzungen. Sie war fort! Sie hatte den Sprung zwischen den Welten gewagt und der Zauber hatte funktioniert.

Plötzlich fing der Boden an zu vibrieren, dann zu beben und die acht Zurückgebliebenen eilten schnell an ihre Plätze. Der Thurisfingar war zum Leben erwacht, der gewaltige Finger des Urriesen! Tief unter dem Feuer lag im sicheren Schoß der Mutter Erde die andere von den Hagedisen begrabene heilige Himmelsscheibe. Sie war überzogen mit einem feinen Netz aus silbernen Linien, dem Stand der Gestirne zur Tag-und-Nacht- Gleiche sowie kraftvollen Runenzeichen, die so alt waren wie die Menschheit selbst. Aus dieser bronzenen Himmelsscheibe stieg durch Erde und Feuer hindurch langsam eine wirbelnde feurige Kugel auf, geboren aus den Flammen und sich wild und zuckend drehend in dieser Welt der Menschen. Das Beben der Erde ließ die Kugel unvorhersehbar in alle Richtungen tanzen, gefährlich nahe kamen ihre heißen Finger dem Fleisch der Frauen, so, als wollten sie jeden Moment zupacken und auch sie in sich hineinreißen.

Die Erschütterungen ebbten jedoch jetzt schlagartig wieder ab und die Kugel zerfloss zu einer sich stetig windenden und pulsierenden Wand aus Feuer. Diese Waberlohe blieb im schwarzen Gesicht der Nacht hängen, fraß die sie umgebende Dunkelheit und wuchs dann noch weiter an. Gleich einer feurigen Mauer schirmte sie das Opferfeuer von den Blicken der anderen acht Hagedisen ab. Das Brausen wurde immer heftiger. Tentakelartige Flammenarme reckten sich gierig gen Boden und Himmel. Zuckend tanzte das unwirkliche Feuer, doch die Zauberinnen standen fest verwurzelt da und zeigten sich gänzlich unbeeindruckt von dem Schauspiel. Nach und nach wuchs der Wall um die gesamte Opferstätte herum, während immer wieder Feuerkugeln aus ihr hervorschossen und mit einem lauten Krachen barsten. Brennende Fetzen wurden in die Nacht hinausgeschleudert und verglühten vor dem wolkenverhangenen Nachthimmel. Der vorher mächtige Feuersturm zog sich nun in sich selbst zurück und es blieb nur noch ein sanft leuchtendes, unirdisch anmutendes Feuerchen auf dem Boden, das harmlos rotierte. Es war von grün-weißlicher Farbe, langsam und gemächlich brennend, beschützt und umringt von der wabernden Feuerwand.

Wind kam auf und die Zauberinnen blickten in den düsteren Himmel. Die Götter hatten zugelassen, dass das Tor geöffnet worden war – jetzt mussten nur noch die Richtigen den Eingang finden und hindurchkommen.

...